Die Situation in Hongkong dominiert die internationalen Schlagzeilen. Kein Tag vergeht ohne Warnungen vor der Volksrepublik China und Kritik an dem chinesischen Vorgehen in Hongkong. Doch wie denkt die chinesische Führung eigentlich über Hongkong? Was war der Grund für das umstrittene Auslieferungsgesetzt? Und wie sehen die chinesischen Bürger die Hongkonger Proteste? Dieser Artikel gibt Antworten.

Nach 156 Jahren britischer Kolonialherrschaft wurde Hongkong 1997 als Sonderverwaltungszone an die Volksrepublik China zurückgegeben. Unter dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ behält die Stadt für 50 Jahre einen semi-autonomen Status. 2047 soll sie vollständig mit China verschmelzen. In der Region sind verfassungsrechtlich Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gewährleistet, ein enormer Unterschied zur Volksrepublik China. Der Vater des chinesischen Wirtschaftswunders Deng Xiaoping wollte mit dem Prinzip „Ein Land zwei Systeme“ den Widerspruch auflösen, dass Hongkong einerseits seine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung behält, dass es aber andererseits ein integraler Bestandteil Chinas bleiben sollte. 1984 erhob der Nationale Volkskongress Chinas dieses Prinzip zum rechtsverbindlichen Staatskodex. Durch die Verschmelzung zweier eigentlich völlig gegensätzlicher Systeme zeichnete sich die chinesische Politik durch starken Pragmatismus aus.

Nun kam es zu einem Vorfall, der in letzter Konsequenz zu den Protesten in Hongkong führte. Ein junges Hongkonger Pärchen verbachte seinen Urlaub auf der Insel Taiwan. Der Mann ermordete seine schwangere Freundin und flog zurück nach Hongkong. Dort legte er ein umfassendes Geständnis ab. Das brachte nicht viel: Taiwan und Hongkong unterhalten kein Auslieferungsabkommen. Der Mörder konnte nicht angeklagt werden.

Aus diesem Grund beschloss die Hongkonger Regierung, das Auslieferungsabkommen zu erlassen. Allerdings sind dadurch auch Auslieferungen nach China möglich. Daher kam es zu den Befürchtungen der Hongkonger Bevölkerung, dass Hongkong auf Druck Pekings nun willkürlich regierungskritische Leute nach Festlandchina überstellen und einsperren könnte. Das wäre ein enormer Verlust für die Hongkonger Autonomie. Die Proteste und die Forderungen der Demonstranten wurden in den Augen der chinesischen Regierung so gefährlich, dass sie ein neues Sicherheitsgesetz erlassen hat. Auf Grundlage des Gesetzes kann Peking gegen Aktivitäten in Hongkong vorgehen, die es als subversiv, separatistisch, terroristisch oder als Verschwörung mit ausländischen Kräften einstuft. Das führt nun zu weltweiter Besorgnis und Kritik. Es gibt sogar die Befürchtung, dass die chinesische Regierung die Armee gegen die Demonstranten einsetzt, wie 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking geschehen.

Doch diese Möglichkeit ist unwahrscheinlich. Die chinesische Regierung braucht diese Lösung gar nicht.

Peking ist davon überzeugt, dass die Hongkonger Eliten die Demonstranten nicht unterstützen und auch viele Einwohner eher die wirtschaftlichen Probleme sehen, etwa die steigenden Mieten. Peking hat die Hongkonger Geschäftsleute umworben, indem ihnen ein wirtschaftlich günstiger Zugang zum Festland angeboten wurde. Zudem hat die Kommunistische Partei Verbindungen sowohl zur Arbeiterbewegung als auch zur kriminellen Szene Hongkongs geknüpft. Die chinesische Regierung übt sich in Geduld, die Demonstranten werden die öffentliche Unterstützung verlieren und abgesehen von wenigen Gewalttätern mit den Protesten aufhören. Zudem möchte Peking die möglichen wirtschaftlichen Missstände beseitigen, die möglicherweise auch für die Demonstrationen verantwortlich sind. Die wirtschaftliche Bedeutung Hongkongs für China hat abgenommen. Am Anfang des chinesischen Öffnungsprozesses war Hongkong wesentlich bedeutender. Hongkong spielt allerdings noch eine Rolle als Brückenkopf zu den globalen Kapitalmärkten. China ist sich dieser Bedeutung bewusst, die Bevölkerung allerdings stört eher. Man kann sagen, dass China Hongkong braucht, aber nicht unbedingt die Hongkonger Bevölkerung.

Dabei kann sich Peking auch der Unterstützung der eigenen Bevölkerung sicher sein. Viele Festlandchinesen verstehen die Proteste in Hongkong nicht. Sie sehen in erster Linie die Schädigung der Wirtschaft durch die Proteste. Viele, auch gebildete Festlandchinesen glauben an den Erfolg des chinesischen Modells, Wohlstand auf Kosten der Rechte des Einzelnen zu gewinnen. Sie haben Angst davor, dass die Rechte der Hongkonger und deren Einforderung zu Chaos, Armut und Hunger führen würden. Dabei zeigt sich eine tiefgreifende Veränderung des Hongkong Bildes in den Augen der Festlandchinesen. Während in den 1980er und 1990er Jahren Hongkong ein Symbol, ein Vorbild für den eigenen wirtschaftlichen Aufstieg war und die Rolle eines Sehnsuchtsortes innehatte, haben sich die Voraussetzungen geändert. Heute ist die Volksrepublik die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und die Hongkonger Freiheiten haben ihre Vorbildfunktion verloren. Shanghai und Shenzhen haben eigene Skylines, ihre Bewohner sehen die im Vergleich kleineren Wohnungen in Hongkong und die hohen Lebenshaltungskosten. Hongkong ist kein Vorbild mehr, vielmehr ist die Meinung entstanden, der Hongkonger Wohlstand würde durch die Volksrepublik geschaffen.

Die chinesische Regierung hat Angst vor Chaos, politischer Instabilität und separatistischen Bestrebungen. Eine Bewegung wie „Unabhängigkeit Hongkongs“ und der natürlich hilflose Wunsch nach Intervention des US-Militärs in Hongkong tragen nicht dazu bei, Peking zu beruhigen. Ein Problem ist auch, dass die Demonstranten echte Demokratie wollen, wie es 1997 bei der Rückgabe an China Hongkong in Aussicht gestellt wurde. Damit kann die Kommunistische Partei nicht umgehen. Die Reaktionen aus dem Ausland sind dabei kein Grund zur Sorge für Chinas Regierung. Die chinesische Regierung hat die kritischen Reaktionen des Westens einkalkuliert. Die von den USA beschlossenen Einschränkungen beim bilateralen Handel treffen nicht wirklich, dafür ist Hongkong als Absatzmarkt nicht bedeutend genug. Da Hongkong immer noch der drittgrößte Finanzplatz der Welt ist, scheint es unwahrscheinlich, dass Peking westliche Geschäftsleute durch das neue Gesetz in Haft nehmen wird. Wahrscheinlicher ist es, dass es nur auf Chinesen Anwendung findet. Zudem denkt Peking bei der Systemfrage nicht unlogisch: Es gibt bei „Ein Land zwei Systeme“ nicht nur den Teil „Zwei Systeme“. Die Grundlage ist „Ein Land“. Wenn die Grundlage „Ein Land“ untergraben wird, kann auch das Prinzip der zwei Systeme nicht funktionieren. Entsprechend fürchtet Peking, dass die Demonstranten an dem „einen Land“ nicht mehr interessiert sind, sondern ein anderes System und ein anderes Land haben wollen. Das ist für China nicht hinnehmbar.

Man muss sich bewusst machen, dass Hongkong zu China gehört und das Prinzip der zwei Systeme nach 2047 ohnehin aufgegeben wird. Demonstrationen gegen das chinesische System an sich können damit keinen Erfolg haben und fordern eine Reaktion Pekings nahezu heraus. Die einzige Möglichkeit besteht darin, Peking davon zu überzeugen, die Hongkonger Autonomie nicht vor dem entscheidenden Jahr völlig auszuhöhlen. Kritik kann dazu beitragen, Gewalt aber auf keinen Fall. Denn etwas hat Peking immer bewiesen, wenn es sein muss, hat die chinesische Regierung eine unendliche Geduld. Zur Not eben bis 2047.