Um die Zustimmung vieler Chinesen zu dem Sozialkreditsystem zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick auf die moralische Verfasstheit des Milliardenvolkes zu werfen. Durch die Verwerfungen der Mao Zeit und den sozial kaum abgefederten wirtschaftlichen Turboaufstieg der letzten Jahrzehnte hat sich eine gesellschaftliche Haltung herausgebildetet, die man getrost als sozialdarwinistisch bezeichnen darf.
Um sich dem Sozialverhalten des durchschnittlichen Chinesen ( nennen wir ihn Herrn Li) zu nähern, kann man sich drei konzentrische Kreise vorstellen. In jedem Kreis interagiert Herr Li anders mit seiner Umwelt.
Der erste Kreis umfasst die engsten Bezugspersonen. Familie und ganz enge Freunde gehören dazu. Hier ist Herr Li absolut ehrlich und zuverlässig, für sie tut er alles. Wer einmal in diesen ersten Kreis reinkommt, zb durch Heirat, hat Menschen um sich, die im Wortsinn alles für ihn tun würden.
Der zweite Kreis betrifft nicht ganz so enge Bezugspersonen, die für Herrn Li in irgendeiner Form wichtig sind. Arbeitskollegen, oberflächliche Bekannte in wichtigen und möglicherweise nützlichen Funktionen in Ämtern, Schulen, Arztpraxen oder Geschäftspartner in Unternehmen. Hier sichert Herr Li sich ein Netz, auf dass er zurückgreifen kann. Dies soll dann greifen, wenn er beispielweise seine Kinder auf eine gute Schule bringen will, Ärger mit Behörden hat oder ein besonders wichtiges Geschäft abschließen möchte. Er vertraut dabei nicht „dem Amt“ oder „der Schule“ wie in der Bundesrepublik, sondern nur den Leuten, die er dort kennt. Das läuft dann über gegenseitige Gefälligkeiten und den dann daraus entstehenden Verbindlichkeiten.
Der dritte Kreis umfasst den Rest der Gesellschaft. Hier herrscht für Herrn Li der absolute Dschungel. Hier traut er niemanden und setzt bei jedem das gleiche Misstrauen voraus. Es gelten keine Regeln. Ein konkretes Beispiel verdeutlicht das gut: Autounfälle in China sind bis jetzt ein Risiko, nicht nur für die Unfallbeteiligten. Man denke sich folgenden Fall: eine Chinesin stürzt unglücklich und liegt verletzt auf der Strasse. Ein Passant leistet erste Hilfe. Das Unfallopfer kommt ins Krankenhaus und wird wieder gesund.
Sie verklagt den Helfer vor Gericht. Er hätte ihr nicht richtig geholfen, irgendwas falsch gemacht, sie hätte nun immer wieder Schmerzen. Der Helfer wird zu Schmerzensgeld verurteilt. In der Urteilsbegründung führt der Richter aus, dass es völlig ungewöhnlich und deswegen nicht vorstellbar sei, dass jemand aus Mitleid erste Hilfe leisten würde ohne unlautere Absicht. Deswegen muss der Helfer irgendeine üble Absicht gehabt haben und sei daher zu verurteilen. Dieser Fall hat sich tatsächlich so ähnlich zugetragen und zeigt die völlige Demoralisierung der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft.
Es ist nicht klar, ob Zwangsmaßnahmen wie das Sozialkreditsystem wirklich etwas ändern werden. Andererseits ist zumindest der Versuch der Regierung in Peking erkennbar, dem sozialen Wildwuchs etwas entgegenzusetzen. Und das ist ja nicht das schlechteste.
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