Wenn man sich das historische Kaiserreich Japan bis 1945 und die Republik Japan in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ansieht, fallen bei näherer Betrachtung einige beunruhigende Parallelen zur heutigen Volksrepublik China auf. Es scheint fast so, als hätte Japan vorweggenommen, was China jetzt bereit ist zu erreichen: wirtschaftliche und militärische Macht.
Wo sind die Unterschiede, und welche Ähnlichkeiten gibt es?
Japan hat eine große Geschichte hinter sich. Die teilt sich in zwei unterschiedliche Zeitebenen. Damit ist nicht das historische Japan früherer Jahrhunderte gemeint, das Japan der mittlerweile im Westen sehr populären Samurai, Angehörige einer aristokratischen Kriegerschicht. Damals hatte Japan ebenso wie das kaiserliche China eine große Geschichte. Der mit dem heutigen China vergleichbare Aufstieg Japans begann mit der Meiji Restauration 1868. Der damalige Kaiser Meiji war entsetzt über die militärische Drohkulisse des US-amerikanischen Commodore Perry, der 1854 das bisher von der Welt abgeschottete Japan mit modernen Kanonenbooten zu einer wirtschaftlichen Öffnung zwang. Diese Demütigung konnten die stolzen Japaner nicht verwinden. Der japanische Kaiser Meiji reformierte und modernisierte das Land nach US-europäischem Vorbild. Die Armee wurde von den bisher dominierenden Samurai getrennt und nach westlichem Vorbild in eine Wehrpflichtarmee umgewandelt. Militärischer Widerstand der Samurai wurde niedergeschlagen. Zudem gab es wirtschaftliche Modernisierungen wie massive Investitionen in die Eisenbahn. Das moderne Japan war schon bald in der Lage, erfolgreich Kriege gegen China zu führen und Formosa, das spätere Taiwan, zu erobern.
1904 kam es zu einem bedeutenden Sieg Japans im Krieg gegen Russland, der Schockwellen in der europäischen Öffentlichkeit auslöste. Zum ersten Mal hatte ein asiatisches Land eine im damaligen Duktus „weiss“ genannte Großmacht wie Russland besiegt. Japan wurde damit ein ernstzunehmender Konkurrent im europäischen Großmächtekonzert der damaligen Zeit
Nach dem ersten Weltkrieg wendeten sich die japanischen Reformen ins Unheilvolle. Japan annektiere 1910 Korea und hielt es bis 1945 besetzt. Um den in den japanischen Augen verdienten Status als Großmacht zu erhalten, begann die japanische Armee einen Eroberungskrieg, der ab 1937 große Gebiete in China und ab 1941 im Zweiten Weltkrieg als Verbündeter von Nazi-Deutschland ganz Südostasien unter japanische Kontrolle brachte. Dabei waren die europäischen Kolonialmächte der Hauptfeind, auch die USA wurde in Pearl Harbor militärisch empfindlich getroffen. Japan definierte sich als überlegene Rasse und wollte eine Großasiatische Wohlstandssphäre unter japanischer Führung durchsetzen. Dabei wurden schlimme Kriegsverbrechen von der japanischen Armee begangen, die nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 in mehreren Kriegsverbrecherprozessen durch die Siegermächte juristisch aufgearbeitet wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das kriegszerstörte Japan durch die USA zwangsdemokratisiert und begann ab den 1950er Jahren, wirtschaftlich aufzublühen. So kam es infolge des Koreakrieges 1950 zu Milliardenaufträgen für die japanische Industrie, die USA schlossen ein Freihandelsabkommen mit Japan. Da die japanische Bürokratie ebenso wie der Kaiser nach der Kapitulation weitgehend unangetastet blieben, sorgten dieselben Strategen in den Ministerien für die wirtschaftliche Expansion, die vorher die Kriegswirtschaft organisiert hatten.
Das neue Japan wollte unbedingt vom Ausland lernen. Der amerikanische Qualitätsmanagementexperte William Deming unterrichtete ab 1950 viele japanische Führungskräfte, so auch den späteren Sony-Gründer Akio Morita. Die Japaner lernten von General Motors und anderen erfolgreichen ausländischen Unternehmen. Während die heimischen Märkte abgeriegelt wurden, wurden die Märkte im Ausland geradezu überschwemmt mit japanischer Technologie und anderen Produkten. Dabei kopierten die Japaner westliche Produkte. Mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 10 Prozent pro Jahr wurde Japan 1980 größter Autoproduzent der Welt. Sony entwickelte den Walkman. Die Preispolitik war brutal, Japan brachte Waren unterhalb des Selbstkostenpreises auf den Markt. Millionen Japaner wanderten aus dem Land in die Städte, arbeiteten 60 Stunden die Woche und hatten kaum Urlaub.
Japaner kauften das New Yorker Rockefeller Center ebenso wie das Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten, 1989 wurde das Hollywoodstudio Columbia Pictures japanisch. Im Westen stieg die Angst vor einem Ausverkauf wichtiger Unternehmen an die Japaner, Japan war auf dem Weg zur größten Wirtschaftsmacht des 21, Jahrhundert.
Anfang der 1990er Jahre kam es durch eine ungebremste Spekulation in Vermögenswerte zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, in dessen Folge eine langanhaltende Rezession Japan plagte. Bis zum Jahr 2001 wuchs die Wirtschaft nur noch um rund ein Prozent. Mittlerweile hat sich Japan erholt und ist immer noch drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Die unblutige und leicht erzwungene japanische Öffnung durch den US Admiral Perry verlief anders als in China. Die damaligen japanischen Samurai waren mit ihren erprobten Ordnungsschemata den „langnasigen Barbaren“ mit ihren modernen Waffen restlos unterlegen und mussten einen radikalen Neuanfang wagen, um weiteren Eroberungen zu vermeiden. Die Chinesen hatten dagegen im 19. Jahrhundert das Gefühl, ihre Methoden der Fremdenabwehr würden noch greifen, da das kaiserliche Zentrum des Reiches in Peking nach der erzwungenen chinesischen Öffnung noch nicht bedroht wurde. Zudem hatten die mit Grenzfragen befassten chinesischen Beamten eine größere Erfahrung im Umgang mit Ausländern als ihre japanischen Pendants. Erst die Zerstörung des Sommerpalastes im Rahmen der militärischen Intervention von acht ausländischen Mächten zur Niederschlagung des Boxeraufstands 1900 führte zu dem Trauma der Demütigung und Verwundbarkeit.
Das kommunistische China wiederholte die Reformen Japans- allerdings im Zeitraffer. Nach den Hungersnöten und dem Chaos der Mao Zeit verordnete der neue Machthaber Deng Xiaoping neue Wege: er erlaubte privates Unternehmertum in kleinem Maßstab, öffnete das bisher völlig abgeschottete Land für ausländische Investoren und führte Sonderwirtschaftszonen ein. In speziell ausgewiesenen Zonen durften ausländische Firmen fast ohne Einschränkungen produzieren- sie mussten lediglich ihr technisches Know How mit der chinesischen Regierung teilen. Das war das Eingangstor für den chinesischen Aufstieg zur wirtschaftlichen Supermacht. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Volksrepublik zum Weltmeister im Kopieren- nicht nur von Produkten, sondern auch in den Formen kapitalistischer Arbeitsweise. Dabei bewies die Kommunistische Partei unter Dengs indirekter Führung eine erstaunliche Flexibilität: Strategien und Techniken des Auslands wurden in Teilen übernommen und in die weiterhin herrschende offizielle kommunistische Ideologie eingebettet. Der Machterhalt der Kommunistischen Partei war nie ernsthaft gefährdet. Im Grunde genommen funktionierte die Volksrepublik nach 1978 wie ein gigantischer Hybrid- eine Mischung aus vermeintlich unvereinbaren Gegensätzen, die doch erfolgreich nebeneinander koexistierten und durch die der Volksrepublik in 30 Jahren möglich wurde, wofür Japan etwa ein Jahrhundert brauchte: Wirtschaftliche Supermacht, ein scheinbar modernes Land mit Stadtlandschaften, die New Yorks Skyline in den Schatten stellten. Dabei wurden die chinesischen Streitkräfte im Rahmen des wirtschaftlichen Aufschwungs ebenfalls erheblich modernisiert. Im Gegensatz zu Japan verzichtete die Volksrepublik auf militärische Eroberungen oder prestigeträchtige Kriegserfolge, wie etwa der japanisch-russische Krieg einer gewesen war. Deng gab die sinngemäße Losung aus, die wahre Stärke zu verschleiern und international verbindlich und freundlich aufzutreten. Das Peking durchaus ohne Skrupel und mit erheblicher Brutalität zuschlagen konnte zeigte sich fast nur im Innern des Riesenreiches, etwa in Tibet oder Xingjiang. Eine der wenigen Ausnahmen war eine als Erziehungsaktion gedachte kurze militärische Aktion gegen Vietnam 1979. China wurde international als harter wirtschaftlicher Wettbewerber wahrgenommen und blieb gleichzeitig politisch kooperativ. Das chinesische Mantra lautete „keine Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten“. Ein Schlagwort zur Beschreibung des chinesischen Einflusses in der Welt lautete „Soft Power, weiche Macht im Sinne von Kooperation, Überredung oder Vorbildfunktion statt Drohungen oder Gewalt. Das alles funktionerte dreißig Jahre gut, am Ende war Peking dort, wo Japan lange vorher war- Platz 3, später 2 auf der Liste der wirtschaftlich bedeutensten Staaten der Welt.
China verwendet die Erinnerung an die Demütigung durch die Kolonialmächte, um die eigene Bevölkerung auf Linie zu bringen- sie sollen die neue militärische und machtpolitische Größe als legitime Reaktion auf die Schikanen des „schwachen Chinas“ früherer Jahrhunderte verstehen und verinnerlichen. China war Großmacht und möchte es wieder sein. Und dieser Machtanspruch hilft auch der Kommunistischen Partei, ihre Herrschaft weiterhin zu legitimieren und abzusichern.
Eine weitere Parallele zu Japan ist die starke Kopiertätigkeit, mit denen die Chinesen sowohl westliche Produkte als auch wirtschaftliche Methoden nachahmten und dadurch wirtschaftlich erfolgreich wurden. Auch das Angebot vieler Produkte zu Dumping Preisen ist mit der japanischen Wirtschaft vergleichbar- das zeigt sich zum Beispiel in der „Überschwemmung“ afrikanischer Märkte mit billigen Textilien aus chinesischer Produktion, mit denen die afrikanischen Händler nicht mithalten können. Zudem arbeiten viele Chinesen“ bis zum Umfallen, auch hier gibt es Ähnlichkeiten zu Japan. Die Formel 9-6-9 ist dafür Zeuge- sechs Tage die Woche arbeiten Millionen Chinesen von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends.
Der große Unterschied zu Japan bestand dabei nicht im rein technisch-wirtschaftlichem Handeln, sondern fand seine Herausforderung im geistigen Überbau- die Japaner blieben ihrer Kultur treu ohne größere Anpassung. Die Chinesen mussten eine kommunistische Ideologie neu interpretieren und den marktwirtschaftlichen Erfordernissen anpassen. Das geschah gerade nach dem Niedergang des Weltkommunismus 1990 in sehr geschicktem und hochflexiblem Maße. Während Japan die durch die US Besatzer erzwungene Demokratisierung problemlos in ihr monarchisches System integrieren konnte, mussten die Chinesen mehrerer Herausforderungen gleichzeitig bestehen: die Jahrhundertverbrechen Mao Zedongs zum Teil verdammen, zum Teil entschuldigen, um ihren zum Halbgott aufgestiegenen Führer nicht zu entweihen. Die Macht der Kommunistischen Partei durfte nicht erodieren wie in der Sowjetunion, und die kommunistische Ideologie sollte mit den marktwirtschaftlichen Notwendigkeiten symbiotisch verwoben werden.
Bedenkt man, dass das kriegszerstörte Japan westliches Startkapital erhielt, hatten die Chinesen einen wesentlich schwereren Start und mussten durch ihre eigene Schläue Kapital einwerben. Dafür gelang der Aufstieg zur wirtschaftlichen Weltspitze wesentlich schneller als im Falle Japans.
Ein evidenter Unterschied zum chinesischen Aufstieg stellt die Zweiteilung der japanischen Erfolge da. Zunächst war da ein politischer und militärischer Modernisierungskurs aus eigener Kraft, der in kriegerischem Größenwahn und der völligen moralischen und militärischen Niederlage endete. Dann bekam Japan eine friedlich-demokratische Regierung, die sich nur auf wirtschaftliche Reformen und Erfolge konzentrierte. In der japanischen Verfassung verzichtete Japan auf eine eigene Armee, abgesehen von wenigen Selbstverteidigungsstreitkräften. Bei China verlief der Aufstieg umgekehrt, erst konzentrierte sich die Kommunistische Partei auf den Aufstieg zur wirtschaftlichen Weltspitze und hielt sich politisch zurück. Erst in den letzten Jahren änderte sich Chinas Verhältnis zu militärischer Macht. 2017 kündigte der chinesische Präsident Xi Xinping auf dem 19. Parteikongress an, dass China bis 2035 eine grundlegende Modernisierung der Armee durchgeführt und bis 2049 die „führende Armee“ aufgebaut haben will. Man sollte solche Aussagen ernst nehmen. Jedes Jahr werden die chinesischen Militärausgaben erhöht.
Dabei rückt insbesondere die chinesische Marine in den Fokus, die jetzt bereits zahlenmäßig die größte der Welt ist. Auch die reine Truppenstärke ist mit zwei Millionen aktiven Soldaten die größte der Welt. 2017 richtete China seine erste ausländische Militärbasis im afrikanischen Dschibuti ein.
Chinesische Kriegsschiffe patroullieren verstärkt im Indischen Ozean. Mit Indien gab es ein Grenzscharmützel. Taiwan fühlt sich konkret bedroht durch Peking. Würde Taiwan sich offiziell für unabhängig erklären, droht China mit einer Invasion.
Wird China den japanischen Weg militärischer Abenteuer einschlagen? Tatsächlich ist alles offen bei der Frage, wie sich die chinesische Macht langfristig auf die internationale Gesellschaft auswirken wird. Aber die Chinesen denken in anderen Zeiträumen als westliche Regierungen, sie haben Jahrhundertziele. Und von einem darf man ausgehen: die Kommunistische Partei hat Zeit- und mit Sicherheit einen Plan.
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